Remote Simultaneous Interpreting … muss das denn sein – und geht das überhaupt?!

In einem von AIIC und VKD gemeinsam organisierten Workshop unter der Regie von Klaus Ziegler hatten wir Mitte Mai in Hamburg die Gelegenheit, diese Fragen ausführlich zu ergründen. In einem Coworkingspace wurde in einer Gruppe organisierender Dolmetscher zwei Tage lang gelernt, diskutiert und in einem Dolmetschhub das Remote Simultaneous Interpreting über die cloud-basierte Simultandolmetsch-Software Kudo ausprobiert.

Zur Einstimmung haben wir uns zunächst vergegenwärtigt, worüber denn nun eigentlich genau reden, denn in der ISO-Norm 20108 wird begrifflich folgendermaßen unterschieden:

Distance Interpreting (interpreting of a speaker in a different location from that of the interpreter, enabled by information and communications technology): Dieser Begriff des “Ferndolmetschens” umfasst alle Szenarien, bei der einer der Kommunikationsteilnehmer sind nicht im gleichen Raum wie die anderen befindet. Dies kann unter anderem bedeuten, dass einfach ein Sitzungsteilnehmer per Videokonferenz zugeschaltet wird oder man beim Kunden sitzt und ein Telefonat dolmetscht.

Das Remote Interpreting, um das es hier gehen soll, ist eine „Unterart“ des Distance Interpreting. Es bedeutet, dass die Dolmetscher remote sind, sei es im Nebenraum oder an einem ganz anderen geographischen Ort. Dabei kann durchaus sein, dass darüber hinaus auch die Teilnehmer an unterschiedlichen Orten sind (full remote).

Viele technische Fragen zum Remote Interpreting, etwa zu den Anforderungen an die Übertragungsqualität, hat Tatiana KAPLUN im November 2018 in ihrem tollen Blogbeitrag “A fresh look at remote simultaneous interpreting” über das RSI-Seminar von AIIC Netherlands dargestellt – sehr lesenswert.

Was mich und viele andere Teilnehmer allerdings neben abgesehen von der technischen Umsetzbarkeit (wie gut sind die RSI-Softwarelösungen? Wo gibt es einen Premium-Hub, wie wir ihn uns wünschen?) am Ende des ersten Tages umtrieb, war die Frage, welche Remote-Simultan-Lösung für unseren Kunden in welchem Fall die beste ist. Wir hatten unzählige kritische Aspekte diskutiert, die jeweils für das Remote-Dolmetschen in gut erreichbaren Dolmetsch-Hubs oder die cloudbasierte RSI-Software am eigenen Rechner sprechen. Und da ich meine, nichts geht über eine knackige Entscheidungsmatrix, habe ich versucht, in einer Tabelle zusammenzufassen, welche Vorteile die jeweiligen Lösungen bieten:

Hub

(an einem zentralen Ort dauerhaft installierte Dolmetschkabinen mit RSI-Software und stabiler und sicherer Internetverbindung)

Home

(Simultandolmetschen mittels cloud-basierter Software; Nutzung von Rechner, Kopfhörer, Mikrofon und Internetverbindung des Dolmetschers)

Vertraulichkeit Bei Sorge vor Industriespionage bzw. entsprechenden IT-Sicherheitsstandards sind öffentliche, cloud-basierte Lösungen für viele Unternehmen problematisch;

Hub mit sicherer Verbindung/eigener oder externer geschützter Serverstruktur sinnvoll

Werden keine vertraulichen Informationen ausgetauscht bzw. wird ohnehin seitens der Teilnehmer mit offenen Systemen/unkontrollierten Zugangspunkten gearbeitet (Privatrechner, Heimbüro), ist eine sichere Verbindung weniger entscheidend
Verlässlichkeit Wenn bei technischem Ausfall hohe Kosten oder große Probleme entstehen; Hubs können eher zwei oder drei Internetverbindungen vorhalten und so einen Verbindungsausfall praktisch ausschließen Wenn ein technischer Ausfall keine größeren Kosten/Probleme verursacht und die Teilnehmer evtl. auch mit wenig verlässlichen Systemen arbeiten; die wenigsten Dolmetscher halten in Ihrem Büro einen redundanten zweiten Internetanschluss vor
ISO-ähnliche Übertragungsqualität und Arbeitsumgebung Einwandfreie Übertragungsqualität (Frequenzband, Latenz, Lippensynchronität) notwendig, wenn störungsfreie, “unbemerkte” Verdolmetschung erforderlich Suboptimale Übertragungsqualität kann dazu führen, dass häufiger Rückfragen notwendig sind, Inhalte verloren gehen, Pausen notwendig sind; akzeptabel v.a. bei Einsätzen von kurzer Dauer bzw. Intensität
Zeit Zeitersparnis nur, wenn Dolmetscher in Hubnähe verfügbar; Vorteil: Hub ist immer einsatzbereit Praktisch bei kurzfristiger Terminierung, vor allem, wenn Dolmetscherpool vorhanden, so dass gegenseitige Vertretung möglich ist – Achtung: Technikchecks, Stand- und Wartezeiten evtl. trotzdem berücksichtigen
Kosten Vorteilhaft ist, wenn Dolmetscher in Hub-Nähe wohnen (bzw. näher am Hub als am Kunden) Praktisch wenn Dolmetscher weder in Hub- noch in Kunden-Nähe
Logistik Praktisch, wenn die Sitzungsteilnehmer an Firmenstandorten mit Hub-ähnlichen Bedingungen sind (Übertragungstechnik vorhanden) Praktisch, wenn Teilnehmer an beliebigen Orten auf dem Globus verteilt sind und/oder beliebig viele Zuhörer mit eigenen Geräten zuhören sollen (BYOD)

 

Zusammenarbeit Im Hub ist Teamarbeit in der Kabine wie in Präsenzveranstaltungen möglich Mikrofonübergabe, Unterstützung (Zahlen/Namen notieren, Terminologierecherche) und Abstimmung erschwert, Blickkontakt muss durch Softwarefunktionen simuliert werden

Neue Perspektiven

Vergleicht man die unterschiedlichen Aspekte, wird klar, dass das Dolmetschen aus einem Hub tendenziell eher die Bedingungen des konventionellen Konferenzdolmetschens abbildet bzw. abzubilden in der Lage ist – wenn dies auch bei Weitem nicht immer gilt. So wäre ein vollständig ohne Konferenzraum, rein virtuell abgehaltenes Event durchaus sinnvoll aus einem Hub zu dolmetschen und in eine „normale“ Präsenzveranstaltung könnten Dolmetscher (wie Teilnehmer) cloud-basiert aus allen Teilen der Welt hinzugeschaltet werden. Klar wird dennoch, dass Veranstaltungen, die aktuell nicht simultan gedolmetscht werden, durch Remote-Technik dafür nun eher in Frage kommen – so etwa Webinare oder informelle Besprechungen zwischen größeren Sitzungen  internationaler Gremien.

Der Praxistest

Am interessantesten und unterhaltsamsten war natürlich der Praxistest. In verteilten Rollen konnten alle Teilnehmer in die Rolle des Redners, Dolmetschers und Zuhörers schlüpfen und alle Perspektiven kennenlernen.

Remote-Simultandolmetschen im Hub

Das Kabinen-Feeling war dabei im ersten Moment ganz normal und gewohnt, mit der Benutzeroberfläche hatten wir uns alle schnell vertraut gemacht. Das Bedienen der “Knöpfe” für Mikrofon, Räuspertaste und Lautstärke am Bildschirm erfordert dabei ein wenig Übung english college. Nicht, dass man nicht in der Lage wäre, mit der Maus einen Schieber zu bedienen – aber das blinde Drücken von ertastbaren Knöpfen, ohne das Sitzungsgeschehen oder den Redner dabei aus dem Auge lassen zu müssen, empfanden die meisten – eventuell auch aus Gewohnheit – als weniger aufmerksamkeitsraubend. Spannend war auch das Ausprobieren verschiedener Kopfhörer, Mikrofone und Betriebssysteme, was zu teils erheblichen Unterschieden in der übertragenen Lautstärke führte.

Da wir im Hub miteinander in den Kabinen saßen, wurde nicht ausprobiert, wie man ohne Blickkontakt das Mikrofon abgibt. Einen Übergabebutton hat Kudo nicht, im Gegensatz zu anderen RSI-Programmen. die teils recht pfiffige Lösungen hierfür bieten.

Zuhörer-Benutzeroberfläche (Android) von Kudo

Das Zuhören am eigenen Smartphone funktionierte bis auf die genannten Lautstärkeprobleme recht gut. Die noch ungeklärte Frage war eher: Was passiert, wenn 50, 100 oder 1000 Veranstaltungsteilnehmer ihr own device bringen und nach einem halben Tag des Zuhörens alle gleichzeitig ihren Akku laden müssen? First world problems, würde man sagen, bringt aber ganz gut auf den Punkt, mit welchem Eindruck mich ein spannendes und intensives RSI-Seminar zurücklässt: Tolle Chancen, faszinierende Technik – aber mitunter kritische technische Details, die dem Enthusiasmus (noch) ein Beinchen stellen.

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Über die Autorin:
Anja Rütten ist freiberufliche Konferenzdolmetscherin für Deutsch (A), Spanisch (B), Englisch (C) und Französisch (C) in Düsseldorf. Sie widmet sich seit Mitte der 1990er dem Wissensmanagement.

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