Kognitive Nachhaltigkeit
Es begab sich in diesem Januar 2023 vor dem Dolmetscher-für-Dolmetscher-Workshop (#dfd2023, organisiert durch das fabelhafte Fortbildungsteam von @aiic_de), der sich dem übergroßen Thema der Nachhaltigkeit verschrieben hatte, dass ich mir Gedanken machte zu der Frage, wie kognitiv nachhaltig wir eigentlich sind.
Wie es sich gehört, stand am Anfang die Frage: Was ist das überhaupt, “kognitive Nachhaltigkeit”?
Nachhaltigkeit
Aus einer Vielzahl von Definitionen lässt sich für unsere Zwecke als Wissensarbeiter*innen sagen: Nachhaltigkeit bedeutet, ein Niveau/System dauerhaft zu (er)halten, ohne Schäden zu verursachen oder die Ressourcen aufzubrauchen (also nicht ausbeuten). Nachhaltigkeit wird aus vielen Sichtweisen diskutiert, etwa der ökologischen, ökonomischen oder sozialen Warte. Das geschieht normalerweise auf kollektiver Ebene, der Blick gilt der gesamten Erde, Volkswirtschaft, Gesellschaft.
Kognition
Unter Kognition versteht man gemeinhin die Gesamtheit der informationsverarbeitenden Prozesse und Strukturen eines intelligenten Systems bzw. (beim Menschen) der geistigen Aktivität und deren Ergebnisse: Dazu gehören Informationsaufnahme (Wahrnehmung und Aufmerksamkeit), Informationsverarbeitung (Denken, Entscheiden, Problemlösen), Informationsspeicherung (Gedächtnis, Lernen, Wissen). Da der menschliche Geist als System normalerweise an einen einzelnen Menschen geknüpft ist, liegt es nahe, im Gegensatz zu den oben genannten Nachhaltigkeitsaspekten eine kognitive Nachhaltigkeit eher aus der Sicht des Individuums und nicht des Kollektivs zu betrachten.
Kognitive Nachhaltigkeit (Definitionsvorschlag)
Für den Bereich der Wissensarbeit und insbesondere des Konferenzdolmetschens ließe sich nun entsprechend folgende Definition für kognitive Nachhaltigkeit formulieren:
Der dauerhafte Erhalt der (eigenen/kollektiven) Kapazitäten zur
- Informationsaufnahme: Wahrnehmung und Aufmerksamkeit
- Informationsverarbeitung: Denken, Entscheiden, Problemlösen
- Informationsspeicherung: Gedächtnis, Lernen, Wissen
Und auf wundersame Weise fügen sich hier nun ganz automatisch verschiedene Teilaktivitäten des Simultandolmetschens (und natürlich auch des Konsekutivdolmetschens) ein. Informationsaufnahme umfasst nicht nur das Hören der Ausgangsrede einschließlich Kompensation von suboptimalem Ton, schwer verständlichen Akzenten etc., sondern auch das Beobachten der redenden Person und das Lesen unterstützender Informationen (Texte, Glossare, Präsentationen), das Monitoring der eigenen Leistung sowie die Verteilung der Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Informationsquellen und das “Zwingen” zur Höchstkonzentration auch beispielsweise unter erschwerten Bedingungen, zum Bespiel bei hohem Tempo und Erschöpfung.
Bei der Informationsverarbeitung steht im Vordergrund das Verstehen der Botschaft im Zusammenspiel mit der Zwischenspeicherung und der Produktion des Zieltextes, was unzählige Mikroentscheidungen umfasst (Wie sage ich es?), und der Auswahl vom Strategien in problematischen Situationen (Kürze ich etwas? Erläutere ich einen kulturspezifischen Sachverhalt oder eine Abkürzung?).
Bei der Informationsspeicherung schließlich wird es beim Dolmetschen noch einmal richtig interessant: Bei der Regulierung des Abstandes zwischen Original- und gedolmetschter Rede (décalage) spielt das Kurzzeitgedächtnis eine fundamentale Rolle, gleichzeitig wird fortlaufend auf sprachliches, inhaltliches und situationsbezogenes Wissen aus dem Langzeitgedächtnis zugegriffen. Spannend ist immer wieder die Frage, ob speziell für einen Einsatz gelernte Terminologie im Eifer des Gefechts abrufbar ist und wie viel Wissen aus einem Dolmetscheinsatz im Gedächtnis “hängen bleibt” und für zukünftige Einsätze genutzt werden kann.
Und nun – was tun?
Alleine bei der Betrachtung der Definition fallen mir schon unzählige Dinge ein, die wir tun können, um unsere kognitiven Kapazitäten zu hegen und zu pflegen.
Kenne Deine Grenzen und Deinen Rhythmus
Lange habe ich über eine Analogie zu unserer geistigen Belastbarkeit nachgedacht. Letzendlich kam mir dann die zündende Idee, als ich am wenigsten darüber nachdachte (unser Geist knobelt ja bekanntlich im Hintergrund an ungelösten Problemen weiter, ob wir wollen oder nicht). Der Vergleich mit dem “Rest” unseres Körpers hinkt zwar an vielen Stellen, macht aber vielleicht trotzdem deutlich, was wir uns von unserem Umgang mit unseren körperlichen Fähigkeiten abschauen können, wenn es darum geht, umsichtig mit unseren geistigen Kapazitäten umzugehen. Und die körperliche Aktivität, die dem Simultandolmetschen am nächsten kommt, scheint mir das so genannte High Intensity Interval Training. Beim HIIT käme ich im Traum nicht auf die Idee, in den 20 Sekunden Ruhephase zwischen einer Runde Hampelmann und einer Runde Mountain Climbers noch ein paar Liegestützen einzulegen. Es ist völlig klar, dass ich einfach nur atme und meine Kräfte für die nächste Runde sammle. Beim Simultandolmetschen ist es hingegen nicht ganz so selbstverständlich, dass ich in meiner Ruhepause die Augen schließe und mein Gehirn einem wohltuenden Leerlauf überlasse (ganz zu schweigen von ein paar Schritten an der frischen Luft), bevor es in die nächste Runde geht. Manuskripte vorbereiten, E-Mails schreiben, Zeitunglesen – man kann ja so viel erledigen in der Zeit zwischen den Hight-Intensity-Phasen! Und wenn ich am Nachmittag erschöpft bin, gibt es ja Kaffee und Kekse (Glukose fürs Gehirn). Unkonzentriert und langsam bin ich zwar trotzdem, und so richtig viel merken kann ich mir auch nicht mehr, aber ich habe echt viel geschafft. Not very nachhaltig.
Nun habe ich weiter überlegt, wie ich meine Kernbotschaft denn eingängig verpacken kann. An einem Freitagvormittag, nachdem ich ein ordentliches Wochenpensum hinter mir hatte, wollte mein Gehirn sich jedoch so gar nicht darauf einlassen, am Schreibtisch ein paar ordentliche Präsentationsfolien oder gar einen sinnvollen Text zu produzieren. Und mein Körper erst recht nicht. Und so habe ich dem Bedürfnis nach Umgehung von geistiger Anstrengung und nach körperliche Bewegung (Übersprunghandlung!) kurzerhand nachgegeben und stattdessen ein kleines Video gedreht, das in 18 Sekunden alles Wesentliche sagt. Und im Optimalfall die Botschaft mittels Unterhaltung viel nachhaltiger in den Köpfen verankert. Und wenn nicht, dann hatte ich wenigstens Spaß!
Und was kann man noch so tun? Hier ein paar Ideen:
Dauer und Intensität von Aufgaben spüren und managen
- Es gibt gute vs. schlechte Unterbrechungen: Die so genannten Übersprunghandlungen haben ihren Sinn (Stress/Energie abbauen), also kann man sie auch gleich sinnvoll nutzen. Beispielsweise konzentriert am Schreibtisch arbeiten, bis man merkt, dass man abschweift oder zappelig wird, dann einer geistig anspruchslosen Tätigkeit nachgehen (Blumen gießen, Vögel füttern, Unterlagen sortieren, Nägel lackieren). In der Kabine zwischen den Dolmetschphasen kognitiven Leerlauf zulassen.
- Wechsel zwischen hoher und niedriger cognitive load bei der Vorbereitungsarbeit (konzentriertes verstehendes Lesen/Termextraktion im Wechsel mit Termrecherche/Dateisortierung/Vokabellernen). So haben Informationen eine bessere Chance, den Weg ins Langzeitgedächtnis zu finden. Allemal besser als Bulimie-Lernen.
- Störungen „im Flow“ vermeiden. Telefon, Handy, Türklingel, Familienmitglieder und Haustiere stummschalten – so weit es eben geht ;-).
- „Rauschen“ vermeiden, unnütze Informationen ausblenden (wenige, gute Zeitungsartikel oder Radiobeiträge statt fünfmal am Tag Nachrichten; mehr gezielte Newsletter/Blogs abonnieren, weniger Social-Media-Scrollen, Radio und Podcasts nur hören, wenn man aufnahmebereit ist; Terminologie-Shortlists erstellen). Welche Informationen brauche ich wirklich, was ist auch übermorgen noch brauchbar?
- Beim Dolmetschen Wechselzeiten spontan variieren je nach Belastungsgrad. Keine langen Soloeinsätze.
- Es gibt kein Multitasking, nur Task Switching. Multitasking kann die Gedächtnisleistung beeinträchtigen. Monofokus genießen!
- Entscheidungsmüdigkeit kennen, entscheidungsintensive Aufgaben z.B. eher am Morgen erledigen.
- Auch die Selbstdisziplinierung/Zwingen zu Aufmerksamkeit kostet kognitive Kapazitäten.
- Rituale und Gewohnheiten schaffen kognitive Entlastung und wirken nachhaltig.
- Prokrastination und Präkrastination kennen.
Intelligente Wissensinvestitionen
- Wissen ist kognitiv „teurer in der Anschaffung” als Information (Unterschied kennen!), aber ökonomischer in Zugriff und Wiederverwertung. Also heißt es: Abwägen! Welche Informationen lohnt es ins Langzeitgedächtnis zu befördern – womöglich auch mittels einer länger angelegten Vokabellern-Aktion – und zu dauerhaft verfügbarem Wissen zu machen, welche nicht?
- Eine Eigenschaft von Information ist, dass sie relevant ist (also in dem Moment zur Lösung eines Problems oder Füllung einer Wissenslücke gebraucht wird). Was als relevant empfunden wird, wird auch besser gespeichert. Dementsprechend ist es sinnvoller, gleich während des Dolmetschens Dinge zu recherchieren, die man nicht weiß, und nicht erst drei Tage später am Schreibtisch (Nachbereitung ade!).
- Kognitive Überlastung und Schlafmangel verhindern, dass Wissen ins Langzeitgedächnis gelangt – man fängt bei jeder Konferenz zum gleichen Thema quasi wieder von vorne an.
- Die kurze Besprechung von Terminologie und kniffligen Inhalten morgens in der Kabine hilft mir immer sehr. Man erfährt immer noch etwas Neues, und das Besprochene verankert sich besser im Gedächtnis als das Gelesene.
Filtern & Sortieren
Terminologiebestände nach Kunde/Thema/Wichtigkeit kategorisieren und kennzeichnen – so kann man beim nächsten Einsatz die schon erfasste Terminologie gezielt herausfiltern und “recyclen”. Gleichzeitig wird die Erinnerung an den letzten Einsatz aufgefrischt. Nicht relevante Begriffe werden ausgeblendet (weniger Rauschen). Wenn man Terminologie nach Prioritäten kategorisiert, möglichst auch fortlaufend während des Einsatzes, kann man sich immer mit zwei Klicks eine Shortlist der ultrawichtigen Begriffe für diese Konferenz oder diesen Kunden zaubern – minimalistischer, hochrelevanter Informationsinput auf der Grundlage der eigenen Erfahrung – kognitiv nachhaltiger geht es kaum!
Automatisieren
Aufgaben an den Computer zu delegieren hat nur indirekt etwas mit Kognition zu tun – man entlastet sich von „kognitiv wertlosen“ Tätigkeiten (Wörter in eine Liste eintragen, einfaches Nachschlagen, terminologieextraktion) und hat so buchstäblich den Kopf frei für die wichtige Denkarbeit (verstehen, auswendiglernen). Auch hier ist Abwägen wieder Trumpf. Nicht jedes Tool bringt wirklich Arbeitserleichterung, und manche Dinge – z.B. zentrale Begriffe – muss man einfach im Kopf haben und den so genannten “Taschenrechnereffekt” (kein Mensch kann mehr Kopfrechnen) vermeiden.
Daten nachhaltig speichern
Datenspeicherung ist an sich natürlich nicht kognitiv. Wenn man es schlau anstellt, hilft die richtige Datenspeicherung aber, das Ergebnis kognitiver Leistungen oder auch nur wertvolle Informationen langfristig verfügbar zu halten. So senkt die Portabilität eines Dateiformats (csv, pdf/a, xml, txt, tif/jpg, mp3) die Abhängigkeit von einer bestimmten Software (im Unterschied zum User Lock-in etwa bei Kindle-Büchern). So lassen sich beispielsweise Tabellen im csv-Format in seeeeeehr vielen Programmen öffnen und bearbeiten und somit auch untereinander jederzeit austauschen. Auch die Verwendung von sehr verbreiteten Programmen (wie etwa MS-Word und MS-Excel) sorgt für eine gewisse Zukunftssicherheit. Eher spezielle Programme, etwa auf den Bedarf von Dolmetschern zugeschnittene Terminologieverwaltungssoftware wie InterpretBank, InterpretersHelp oder Interplex, bietet hingegen oft einen größeren Nutzen. Sie sind glücklicherweise aber auch häufig mit generischen Programmen kompatibel, so dass man die Dateien durch Export hin- und hertransferieren kann.
Gemeinsame Vorbereitung für mehr Tempo und Qualität
Gemeinsame Vorbereitung in Online-Dossiers reduziert zunächst einmal schlichtweg den Arbeitsaufwand für alle Beteiligten. Sie hat aber auch den unschlagbaren Vorteil, dass man etwa einen Text, den man auch für das restliche Team vorbereitet, wahrscheinlich gründlicher liest bzw. Terminologie anders recherchiert, da man weiß, dass auch andere sich darauf verlassen. Man diskutiert und kommentiert im Online-Glossar, was nicht nur für eine tiefere Verarbeitung sorgt, sondern auch einfach mehr Spaß macht. Und damit schließt sich der Kreis: Kognitive Nachhaltigkeit hat tatsächlich auch eine – wie ich finde sehr schöne – kollektive Dimension.
Über die Autorin:
Anja Rütten ist freiberufliche Konferenzdolmetscherin für Deutsch (A), Spanisch (B), Englisch (C) und Französisch (C) in Düsseldorf. Sie widmet sich seit Mitte der 1990er dem Wissensmanagement.
Quellen
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Barzon (2018) “Cognitive sustainability in Digital Experiences”. https://www.spindox.it/en/blog/cognitive-sustainability-digital/ (Taschenrechnereffekt).
Bates, S. (2018) ‘A decade of data reveals that heavy multitaskers have reduced memory, Stanford psychologist says’, Stanford News, 25th October, url: https://news.stanford.edu/2018/10/25/decade-data-reveals-heavy-multitaskers-reduced-memory-psychologist-says/. (We don’t multitask. We task switch.)
Bateson, G. (1972) Steps to an ecology of mind, New York: Ballantine Books.
Bruni, L.E. (2015) ‘Sustainability, cognitive technologies and the digital semiosphere’, International Journal of Cultural Studies, 18(1),103-117.
Döring, Ralf und Konrad Ott (2001): Nachhaltigkeitskonzepte. In: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik 2 (2001)3. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-347600
Kluwe, Rainer H. https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/kognition/7882.
Kurzban, Robert, Angela Duckworth, Joseph W. Kable, and Justus Myers (2014): An opportunity cost model of subjective effort and task performance. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3856320/. (https://www.zeit.de/gesundheit/2022-09/geistige-erschoepfung-gehirn-glutamat-forschung/komplettansicht)
Stangl, Werner (2023): Kognition – Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik. Wien-Linz-Freiburg 2023 https://lexikon.stangl.eu/240/kognition.
Uncapher, M.R. & Wagner, A.D. (2018) ‘Minds and brains of media multitaskers: Current findings and future directions’, Proceedings of the National Academy of Sciences, 115(40), 9889-9896.
Cognitive Load Theory: http://www.elearning-psychologie.de/cl_clt_i.html
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